Kriegsverbrecherprozesse

Kriegsverbrecherprozesse

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Kriegsverbrecherprozesse,
 
Verfahren zur Ahndung von Kriegsverbrechen. Nach dem Ersten Weltkrieg (1914-18) forderten die Siegermächte im Art. 227 Versailler Vertrag (28. 6. 1919 von Deutschland die Auslieferung Kaiser Wilhelms II., des früheren Reichskanzlers T. von Bethmann Hollweg, des Generalfeldmarschalls P. von Hindenburg, des Großadmirals A. von Tirpitz sowie deutscher Beamter, Offiziere und Soldaten (insgesamt 854) wegen der Begehung von Kriegsverbrechen. Angesichts des deutschen Widerstandes gegen diese Forderung verzichteten die Kriegsgegner Deutschlands auf ihr Auslieferungsbegehren. Stattdessen fanden vor dem Reichsgericht in Leipzig einige Prozesse gegen Angehörige der deutschen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg statt (Beginn: 23. 5. 1921; Einstellungsbeschluss: 7. 7. 1933). Die Urteile bewegten sich zwischen begrenzten Freiheitsstrafen (z. B. vier Jahre Haft) und Freisprüchen.
 
Angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg (1939-45) bekundeten Großbritannien, die UdSSR und die USA in der Moskauer »Erklärung über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa« (30. 10. 1943 ihre Absicht, Kriegsverbrechen zu bestrafen; sie bestätigten und präzisierten dies auf der Jalta-Konferenz (Februar 1945). Seit 1943 tagte in London unter dem Vorsitz des britischen Lordkanzlers J. A. Simon die »United Nations War Crimes Commission«, die Kriegsverbrecherlisten zusammenstellte und Vorschläge zur strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen machte. Auf der Londoner Viermächtekonferenz (26. 6.-8. 8. 1945) beschlossen die UdSSR, die USA, Großbritannien und Frankreich (als Besatzungsmächte in Deutschland) ein »Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse« (8. 8. 1945. Zugleich verabschiedete die Konferenz ein Statut für ein »Internationales Militärtribunal«. Am 20. 11. 1945 trat dieses in Nürnberg zusammen (Nürnberger Prozesse) und zog im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher leitende Funktionsträger des nationalsozialistischen Staates und des Militärs zur Verantwortung (Urteilsverkündung am 30. 9./1. 10. 1946 ). Im Anschluss daran führten die Besatzungsmächte auf der Basis des Kontrollratsgesetzes Nummer 10 (20. 12. 1945) in eigener Verantwortung Nachfolgeprozesse durch. In den Prozessen vor Militärgerichten der drei Westzonen (einschließlich des Internationalen Militärtribunals) wurden 5 025 Angeklagte verurteilt; in 806 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt, in 481 Fällen vollstreckt. In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) erfolgten Verurteilungen, außer in Prozessen vor Militärgerichten, entsprechend sowjetischer Praxis auch auf administrativem Wege ohne Gerichtsverfahren. Die Gesamtzahl der Verurteilten wird auf 45 000 geschätzt, die Zahl der Todesurteile ist unbekannt. In der SBZ/DDR fanden daneben »Kriegsverbrecherprozesse« statt, die dazu dienten, den Umbau des Staates nach stalinistischen Vorstellungen zu forcieren (u. a. Waldheimer Prozesse, Entnazifizierung).
 
Auch in den Ländern, die im Krieg von Deutschland besetzt worden waren (u. a. Belgien, Frankreich, Jugoslawien, Niederlande, Polen, Tschechoslowakei und UdSSR), fanden auf der Grundlage der Landesgesetze Kriegsverbrecherprozesse gegen Deutsche statt. In der Sowjetunion wurden 1942-50 etwa 30 000 deutsche Kriegsgefangene als Kriegsverbrecher verurteilt (Todesurteile beziehungsweise Zwangsarbeit; bis 1996 Rehabilitierung in etwa 5 000 Fällen).
 
Nach und nach übertrugen die Besatzungsmächte deutschen Gerichten die Zuständigkeit für die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen, in der Bundesrepublik Deutschland 1955 endgültig durch den Überleitungsvertrag (Deutschlandvertrag). Am 1. 12. 1958 wurde in Ludwigsburg die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« eingerichtet.
 
In Tokio trat am 31. 7. 1946 ein Internationales Militärtribunal für den Fernen Osten zusammen, um japanische Kriegsverbrechen zu ahnden (Urteilsverkündung 12. 11. 1948).
 
Für die nach 1945 durchgeführten Angriffskriege wurden bisher keine Staatsorgane in Kriegsverbrecherprozesse zur Verantwortung gezogen. Lediglich im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg wurde eine Gruppe amerikanischer Soldaten in einem Kriegsverbrecherprozess verurteilt (My Lai).
 
Zur Verfolgung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda wurden von den Vereinten Nationen 1993 beziehungsweise 1994 Kriegsverbrechertribunale eingerichtet.
 
 
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internat. Militärgerichtshof, hg. v. L. D. Egbert u. a., 42 Bde. (1947-49);
 
Trials of war criminals before the Nuernberg military tribunals under Control Council law No 10, 15 Bde. (Washington, D. C., 1949-53);
 K. Heinze: Die Rechtsprechung der Nürnberger Militärtribunale (1952);
 
Das Urteil von Nürnberg 1946, hg. v. H. Kraus (Neuausg. 1961);
 R. Henkys: Die natsoz. Gewaltverbrechen. Gesch. u. Gericht (1964);
 G. E. Gründler u. A. von Manikowsky: Das Gericht der Sieger (1967);
 
Justiz u. NS-Verbrechen, bearb. v. A. L. Rüter-Ehlermann u. a., 21 Bde. u. Erg.-Bd. (Amsterdam 1968-81);
 
NS-Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung, Möglichkeiten, Grenzen, Ergebnisse, hg. v. A. Rückerl (1971);
 R. H. Minear: Victor's justice. The Tokyo war crimes trial (Princeton, N. J., Neuausg. 1972);
 K. W. Fricke: Politik u. Justiz in der DDR. Zur Gesch. der polit. Verfolgung 1945-1968 (1979);
 M. Lang: Stalin's Strafjustiz gegen dt. Soldaten (1981);
 J. Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation (1983);
 
Der Unrechts-Staat. Recht u. Justiz im Nationalsozialismus, bearb. v. B. Blanke u. a., 2 Bde. (1-21983-84);
 A. Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung (21984);
 J. J. Heydecker u. J. Leeb: Der Nürnberger Prozeß. Neue Dokumente, Erkenntnisse u. Analysen, 2 Bde. (Neuausg. 1985).

Universal-Lexikon. 2012.

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